In einer Podiumsdiskussion in Mannheim mit dem Titel „Markt und Mensch. Wirtschaft neu denken“ reflektierten Prof. Achim Wambach vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim und der deutsche Unternehmer und Geschäftsführer des in der Biobranche tätigen Unternehmens Alnatura, Prof. Götz Rehn Defizite der derzeitigen Politik rund um die Ernährungs- und Landwirtschaftswende.  Für „Die Farbe des Geldes“ stellten sie sich im Anschluss diversen Fragen. 

Herr Rehn, Sie stellten der Politik der Europäischen Union in der Podiumsdiskussion eine psychiatrische Diagnose aus: Schizophrenie. Warum dieses harte Urteil?

Rehn: Es gibt in der Europäischen Union den „Green Deal“. Die Absicht lautet: Wir wollen alle landwirtschaftlichen Prozesse anschauen, vom Acker bis zum Teller. Ziel ist es, diese Prozesse nachhaltiger zu gestalten. Das ist sinnvoll, und es existieren viele Mittel und Wege, um mehr Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft zu verankern. Dazu gehört auch die Erkenntnis: Natürliche Organismen müssen sich regenerieren – und diese Fähigkeit will die EU fördern. Die Voraussetzung für diese Regeneration ist die Biodiversität.

Das läuft doch in die richtige Richtung …

Rehn: Ja, aber nur scheinbar. Es ist fast ein Schlag ins Gesicht, wenn dieselben Behörden in Brüssel für zehn Jahre die Zulassung für das Round-up Glyphosat verlängern. Ein weiteres Beispiel: Im November wurde im Europaparlament der Antrag abgelehnt, bis 2030 den Einsatz von Pestiziden um 50 Prozent zu reduzieren.

Rehn: Auf der einen Seite haben wir in Europa eine Strategie für Nachhaltigkeit und Biodiversität, auf der anderen Seite ein politisches Handeln, das das Gegenteil von dem erreicht, was beabsichtigt ist. Die zwei Beispiele Glyphosat und Pestizide zeigen auf, was ich als einen „schizophrenen“ Zustand bezeichnet habe.

Wie schätzen Sie diese Frage ein, Herr Wambach?

Wambach: Es gibt in der Politik nicht nur ein Ziel. Das nennen wir in der Ökonomie einen „Trade off“, was bedeutet: Ziele stehen in Konkurrenz; oft lässt sich nur das eine erreichen, wenn wir beim anderen Abstriche machen. Beispiel: Es ist eine große Errungenschaft, dass wir günstige Lebensmittel haben. So sind ärmere Haushalte auch in der Lage, Geld etwa für Urlaub auszugeben. Früher mussten sie die Hälfte des Einkommens für Nahrungsmittel aufwenden, heute haben diese Haushalte größere Freiheitsgrade. Soweit die rationale Antwort, weil wir am Beispiel Glyphosat einen „Trade off“ zwischen unterschiedlichen Zielen sehen: zum einen günstige Lebensmittel, zum anderen ökologischer Anbau.

Wir kennen aber auch Lobby-Gruppen in der Politik, manche sind besonders laut. Gerade die Landwirtschaft spielt eine große Rolle, obwohl sie nur wenig zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt. Trotzdem haben die Bauern eine große Wirkung in unserer Gesellschaft …

Die großen Traktoren fahren schon sehr eindrucksvoll über unsere Straßen …

Wambach: Ja, sicher. Wir sollten aber festhalten, dass die Landwirte neben der Erzeugung von Lebensmitteln auch in der Landschaftspflege eine wichtige Aufgabe erfüllen. Außerdem wird ihr Beitrag für die Klimapolitik gebraucht.

Geht es da nicht häufig um externe Effekte?

Wambach: Genau. Und da ist der Staat gefordert, da die Unternehmen diese externen Effekte von alleine nicht ausreichend bei ihrem Handeln berücksichtigen. Die negativen Auswirkungen einzelwirtschaftlicher Tätigkeit trägt dann die Allgemeinheit, was häufig für die Verschmutzung der Umwelt zutrifft. Ein Preis für Verschmutzung, wie zum Beispiel ein Preis für CO2 bei der Klimaverschmutzung, kann helfen, diesen Trend umzukehren.

Rehn: Diesem Gedanken würde ich gerne noch etwas hinzufügen. Mein Kollege vom ZEW hat ja gerade über externe Kosten gesprochen. Besonders in der agrar-industriellen Landwirtschaft sind die externen Kosten sehr hoch, zum Beispiel die Schäden für die Biodiversität durch Glyphosat. Würden wir tatsächlich alle verursachten Kosten der agrar-industriellen Landwirtschaft in ihren Preisen erfassen, wären Produkte aus biologischem Anbau im Supermarkt sogar günstiger. Das nennen Ökonomen „True Cost Accounting”.

„Die Preise müssen die Wahrheit sagen“ – das ist eine alte Forderung des Umweltwissenschaftlers Ernst Ulrich von Weizsäcker. Frage an Sie, Herr Rehn: Wahre Preise wären ein Weg zu mehr Nachhaltigkeit. Doch der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist eine Worthülse, in der vieles stecken kann. Was verstehen Sie darunter?

Rehn: Vor 40 Jahren habe ich bei der Gründung von Alnatura das Motto geprägt: „Sinnvoll für Mensch und Erde“. Das Unternehmen steht dafür, dass unser gesamtes Handeln Sinn stiften soll. Zum einen ist es sinnvoll, wenn es den Menschen besser geht. Zum anderen ist es sinnvoll, wenn unser Handeln den Zustand der Erde verbessert. Ein Beispiel sind Produkte aus einer Landwirtschaft, die CO2 einspart. Das ist für uns Nachhaltigkeit! Daran orientieren wir uns, wenn wir ökonomisch tätig sind.

Steht die Idee der Nachhaltigkeit nicht für viel mehr Aspekte?

Rehn: Unsere Ziele bei Alnatura bilden einen Dreiklang: Erstens wollen wir besonders nachhaltig bei unseren Produkten und Leistungen sein. Zweitens ist es unser Ziel, dass unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer stärker Eigenverantwortung übernehmen und unternehmerisch tätig sind. Dazu ist es nötig, auf der einen Seite einen geeigneten Rahmen zu schaffen. Auf der anderen Seite sind unsere Mitarbeitenden so zu befähigen, dass sie diese Eigenverantwortung wirklich annehmen wollen und können.

Drittens versuchen wir, so sparsam wie möglich mit Ressourcen umzugehen. Dann zeigt sich am Ende, ob wir Gewinn oder Verlust machen. Natürlich wollen wir niemals so wirtschaften, dass ein negatives Ergebnis entsteht. Sonst hätten wir keine Zukunft. Der Gewinn zeigt, ob wir wirtschaftlich arbeiten. Das ist eine Voraussetzung für unsere Existenz, aber nicht das wichtigste Ziel. Das wesentliche Ziel von Alnatura sind „sinnvolle Leistungen“.

Herr Wambach, welche Rolle spielt der Gewinn in einer modernen Marktwirtschaft?

Wambach: Es gab eine Zeit, da stand für Unternehmen nur der „shareholder value“ im Vordergrund. Heute sind wir weiter: Unternehmen strengen sich an, ihre Mitarbeiter zu halten. Sie sind sehr aktiv, um neue Kunden zu gewinnen und alte zu behalten. Letzere sind alle Stakeholder des Unternehmens: Stakeholder value statt shareholder value. Außerdem gibt es durch das ESG-Reporting weitere Auflagen für Unternehmen, die sich jetzt für ökologische und soziale Belange sowie eine nachhaltige Unternehmensführung einsetzen. Die Gleichung „Unternehmen = Profitmaximierung“ greift in unserer Zeit zu kurz.

Dennoch gilt auch heute: Unternehmen müssen Gewinne machen. Ohne Gewinne gibt es keine Investitionen, denn das geliehene Kapital ist zurückzuzahlen. Wer Verluste macht, scheidet aus dem Markt aus. Da dürfen wir uns nichts vormachen.

Lässt sich in unserer Wirtschaftsordnung nachhaltig wirtschaften, Herr Wambach?

Wambach: Selbstverständlich. Nehmen Sie als Beispiel die Familienunternehmen: Mitglieder einer Familie gründen ein Unternehmen, um Jahrzehnte in diesem ökonomischen Rahmen aktiv zu sein, und um dieses möglicherweise auch an ihre Kinder weiter zu geben. Das kann nur gelingen, wenn die Kunden zufrieden sind, und die Familie ihre Ressourcen nicht zu sehr ausbeutet. Unternehmen denken im Allgemeinen langfristig. Aber häufig braucht es zusätzlich Regulierung, damit die Unternehmen die bereits erwähnten externen Effekte ausreichend berücksichtigen. 

Wettbewerb ist ein wesentlicher Faktor in einer Marktwirtschaft. Doch heute scheinen sich globale Monopole auszubreiten, besonders in der wichtigen Digital-Ökonomie.

Wambach: Große Monopolisten gab es schon in der Vergangenheit. So haben auch die Nationalsozialisten auf Kartelle gesetzt, also auf Unternehmensverbände. In der Bundesrepublik musste Ludwig Erhard hart für das Wettbewerbsrecht kämpfen, weil es die Ansicht gab, Wettbewerb sei schädlich. Daher ist die Aufwertung des Wettbewerbs historisch gesehen ein neues Phänomen. Und dieser Wettbewerb hat wesentlich zu unserem Wohlstand beigetragen. Wir merken aber heute, wie gerade Unternehmen wie Google oder Facebook im Digitalbereich eine sehr große Marktmacht entwickeln – und die Wettbewerbsbehörden versuchen händeringend gegen solche Monopole vorzugehen.

Herr Rehn, wie schauen Sie auf den ökonomischen Wettbewerb?

Rehn: Der Wettbewerb ist Teil einer freien Gesellschaft, in der neue Initiativen möglich sind. So entstehen Gelegenheiten der Gestaltung,  im Kontakt mit Kundinnen und Kunden. Sie kaufen entsprechende Produkte und fördern auf diese Weise Unternehmen, die hinter den Produkten stehen. Alnatura ist nur erfolgreich, weil viele Menschen unsere Produkte und Leistungen wertschätzen. Die Kundinnen und Kunden sind die eigentlichen Arbeitgeber! Ich betrachte ein Unternehmen nicht als Einheit aus Arbeitgeber und Arbeitnehmern – und damit beherrscht vom Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Vielmehr bilden wir zusammen die Alnatura  Arbeitsgemeinschaft für unsere Kundinnen und Kunden, die uns die Arbeit geben. Wie gesagt: Sie sind unsere wirklichen Arbeitgeber.